Strenge Anforderungen an die Einfügung erst in 2. Instanz recherchierten Stands der Technik in das Berufungsverfahren

BGH, Urt 15.07.2021 – X ZR 60/19 (BPatG)

Zwei Grundsätze aus der Entscheidung:

Rn 97: Nach der Rechtsprechung des Senats darf eine Entgegenhaltung, auf die der Kläger erst in zweiter Instanz aufmerksam geworden ist, gemäß… nur dann berücksichtigt werden, wenn der Kläger darlegt und erforderlichenfalls glaubhaft macht, warum eine Recherche, die das Dokument zutage gefördert hätte, in erster Instanz (noch) nicht veranlasst war. Hierzu muss der Kläger konkret dartun, wie er das Suchprofil seiner erstinstanzlichen Recherche angelegt und warum er ein solches Profil gewählt hat und nicht dasjenige, das zur Ermittlung des in zweiter Instanz neu angeführten Stands der Technik geführt hat.

Rn 102: Darzulegen ist, warum eine Recherche auch bei sorgfältiger Prozessführung in erster Instanz (noch) nicht veranlasst war.

Quelle: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte, Heft 5/2023, Seite 225

BGH zur Erschöpfung bei „convenant not to sue“

BGH 24.01.23 – X ZR 123/20 – OLG Karlsruhe:
Lizenz vs. convenant not to sue:

Bei Erzeugnissen, die durch Dritte in Verkehr gebracht werden, setzt der Eintritt der Erschöpfungswirkung nicht zwingend voraus, dass dem Dritten eine wirksame Lizenz erteilt worden ist. […] (Rn46)
Deshalb haben Beschränkungen, die ein Patentinhaber in einem Lizenzvertrag hinsichtlich der Befugnis zur Benutzung von Erzeugnissen vereinbart, die aufgrund der Lizenz in Verkehr gebracht werden, grundsätzlich keinen Einfluss auf den Eintritt der Erschöpfungswirkung. (Rn47)

[Es] führt ein convenant not to sue in der Regel zur Erschöpfung der Rechte im Hinblick auf Erzeugnisse, die auf dieser Grundlage [Vereinbarung, keine Rechte geltend zu machen] in Verkehr gebracht werden. (Rn43)

Ein Vorbehalt von Rechten gegenüber Dritten stellt dann lediglich einen untauglichen Versuch dar, die Reichweite der Erschöpfung zu beschränkten. (Rn55)

Das heißt:

[Es] hat die Erschöpfung zur Folge, dass der Patentinhaber seine durch das Patent vermittelten Möglichkeiten zur Einwirkung auf das weitere Schicksal des geschützten Gegenstands verliert. Diese Rechtsfolge kann durch Vertrag nicht im Verhältnis zu Dritten ausgeschlossen werden. (Rn52)

Quelle: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte, 114. Jahrgang, 3, März 2023, Seite 131

EuGH-Update zu „Bundespatentgericht sieht das Design / die Gestaltung einer Unterseite eines Fahrradsattels als nicht designfähig an“

Update (jüngstes):

Zuvor ein plastisches Beispiel des Generalanwalts:

  • „Wenn ein an der Unterseite einer Schuhsohle verwendetes Muster (…) schutzfähig ist, sehe ich nicht, warum ein Muster, das wir im vorliegenden Fall an der Unterseite eines Fahrradsattels verwendet wird, dies nicht sein könnte. Der einzige Grund, der diesen Unterschied rechtfertigen könnte, besteht darin, dass der Sattel vom Fahrrad abmontiert werden kann, während sich die Sohle nicht (so leicht) vom Schuh abtrennen lässt.“

Quelle: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte, 3, März 2023, Seite 119

Der EuGH beantwortet mit Urteil vom 16.02.23 die beiden u.a. Vorlagefragen des BGH wie folgt: (C-472/21):

  • Für die Schutzvoraussetzung der „Sichtbarkeit“ (eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses) ist auf eine Situation der normalen Verwendung des komplexen Erzeugnisses [Fahrrad] abzustellen.
  • Hierbei ist maßgeblich:
  • Die bestimmungsgemäße Verwendung durch den Endbenutzer, sowie
  • die Sicht eines außenstehenden Beobachters.
  • Es findet auch eine Verwendung Berücksichtigung, die der Endbenutzer neben der Hauptsächlichen vernünftigerweise vornehmen könnte und aus dessen Sicht üblich ist – mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

Es dürfte wohl bei der Entscheidung durch den BGH darauf ankommen, ob die Abnahme von Sattel mit Sattelrohr als Art der Diebstahlsicherung durch den Fahrradfahrer vernünftigerweise vorgenommen wird und aus dessen Sicht üblich ist und ob außenstehende Beobachter dabei regelmäßig Sicht auf die Sattelunterseite erlangen. Dabei wird zuvor eine Wertung nötig sein, ob diese Handlung den Ausnahmetatbestand der Instandhaltung oder Wartung oder Reparatur darstellt, was wohl abwegig erscheint. Man darf vermuten, dass der BGH das Sichtbarkeitserfordernis (anders als ursprünglich das BPatG) als gegeben ansieht.

Weiter Einzelnes zum Urteil des EuGH: Art. 3(3) Design-RL verlange nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung (Des komplexen Erzeugnisses) vollständig sichtbar bleibt (Tz. 45). Art 3(4) Design-RL stelle klar, dass unter „bestimmungsgemäße Verwendung“ ausdrücklich Verwendungen durch den Endbenutzer ausgenommen seien, die unter Instandhaltung, Wartung oder Reparatur des komplexen Erzeugnisses fallen (Tz. 47). Laut EuGH wollte der Unionsgesetzgeber auf die übliche Verwendung durch den Endbenutzer abstellen, um eine Verwendung [bei der Beurteilung der Sichtbarkeit] auf anderen Handelsstufen auszuschließen, um einer Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen. Der EuGH spricht sich für eine weite Auslegung des Begriffes „bestimmungsgemäße Verwendung“ aus (Tz. 53). Die Verwendung gemäß Hauptfunktion erfordere in der Praxis oftmals verschiedene Handlungen bevor oder nachdem das Erzeugnis diese Hauptfunktion erfüllt hat (wie Aufbewahrung oder Transport) (Tz. 55).

Update:

Der BGH (I ZB 31/20) legt nun der unten aufgeführten BPatG-Entscheidung nachfolgend dem EuGH zwei Fragen zur Richtlinien-Auslegung vor:

  • a) „ob ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann „sichtbar“ (im Sinne von Art 3(3) der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen) ist, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem zustand des Bauelements erkennen zu können,
  • oder ob es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachter-Perspektive ankommt“

Darauf aufbauend fragt er für den letztgenannten Fall nach:

  • b) „ob es für die Beurteilung dieser bestimmungsgemäßen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses (hier: des Fahrrads) auf den vom Hersteller des Bauelements (Sattel) oder des komplexen Erzeugnisses (Fahrrad) intendierten Verwendungszweck
  • oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer ankommt
  • und nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob die Verwendung (eines komplexen Erzeugnisses) durch den Endbenutzer „bestimmungsgemäß“ ist.“

Quelle: Mitt. Heft 2/2022 „Aktuelle Entwicklungen im Designrecht, Thorsten Beyerlein“

Ursprünglicher Eintrag:

Das Bundespatentgericht (BPatG) hat in seinem Beschluss BPatG 30 W (pat) 809/18 vom 27.02.2020 zur Frage der Sichtbarkeit eines Designs in Form der Unterseite eines Fahrradsattels und dessen bestimmungsgemäßer Verwendung geurteilt und das nachfolgend wiedergegebene Design gelöscht.

Dabei ging es um sogenannte Bauelemente komplexer Erzeugnisse, genauer: die Unterseite eines Sattels, der als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses (nämlich des Fahrrads) zu verstehen war.

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Interessantes zu Tatsachen und der Würdigung eines Sachverständigenvortrages

„Von einer erneuten mündlichen Anhörung des Sachverständigen kann nicht abgesehen werden, wenn das Berufungsgericht dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will […]. Das gilt grundsätzlich auch bei vom Tatrichter in Anspruch genommener eigener Sachkunde (Amtlicher Leitsatz)“. BGH, Urt. vom 19.10.2022 – XII ZR 97/21 – OLG Schleswig

Quelle: Mitteilungen der deutschen Patentanwältem 114. Jahrgang, Februar 2023, S. 99

BGH zur Frage der mittelbaren Patentverletzung und der Abgrenzung Neuherstellung vs. bestimmungsgemäßer Gebrauch (Reparatur)

Die Frage der Entscheidung Scheibenbremse II (BGH, 08.11.22 – X ZR 10/20) war, ob der Vertrieb von Verschleißblechen, die Teil eines Patentanspruchs des Streitpatents (gerichtet auf Scheibenbremsen mit Bremsträger und Verschleißblechen) waren als Neuherstellung zu werten sind oder nicht.

Der BGH urteilt, dass der Austausch der angegriffenen Verschleißbleche nicht als Neuherstellung anzusehen ist. Folglich sind die Rechte der Klägerin in Bezug auf die angegriffenen Handlungen erschöpft (Rn63).

Es heißt dazu (Rn 54), dass die technische Wirkung der angegriffenen Verschleißteile allein darin besteht, dass sie verschleißen und damit einem Verschleiß des fest angeschweißten Bremsträgers entgegenwirken. Diese Wirkung reicht nicht aus, um eine Neuherstellung [der Scheibenbremse gemäß Patentanspruch] zu bejahen. (Rn59) Im Streitfall ist eine Neuherstellung danach zu verneinen. Die technische Wirkung der angegriffenen Verschleißbleche besteht allein darin, dass sie verschleißen.

BGH zur Frage des Bedeutungsgehalts von Merkmalen – „Verbundelement“

Fazit einer jungen Entscheidung des BGH (26.04.22 – X ZR 44/20 – Verbundelement) ist:

Auch bei unzureichender Erläuterung eines Begriffs kann sich beispielsweise eine praktisch relevante Grenze auch aus der Zielsetzung ergeben.

Dabei ging es um eine noch „reaktionsfähige“ Schicht. Dies war weder im Anspruch noch in der Beschreibung genau erläutert. Der Zeitraum, in dem die Schicht als noch reaktionsfähig anzusehen sehen ist, ist möglicherweise sehr lang und unbestimmt – der Anspruch damit so breit, dass Stand der Technik entgegensteht. Die relevante Obergrenze ergab sich lt. BGH nun aber aus der Zielsetzung, dass das Aufbringen der „reaktionsfähigen“ Schicht auf andere Schichten die Haftung (zwischen den Schichten im Verbundelement) in relevantem Umfang verbessern muss. Dies war zwar ebenfalls nicht erläutert. Eine Verbesserung der Haftung in einem Umfang, der für den vorgesehenen Einsatz ohne jede Bedeutung ist, reicht aber nicht aus (Rdn44).

Der BGH behält somit seine Linie, allen Merkmalen eine Bedeutung zukommen zu lassen, bei.